Neufundland ist eine Insel vor der Ostküste Kanadas. Die Wetterküche über dem Nordmeer sorgt für lange Winter und sprunghafte Wetteränderungen. Nichts, was die Fernfahrer auf der Insel aus der Ruhe bringen würde.
„Wenn dir das Wetter nicht gefällt, musst du einfach fünf Minuten warten!“ Sheri, die Besitzerin des Bed and Breakfast „The Turnip“ lacht, als sie beim Blick aus dem Fenster hinaus in die schockgefrostete Landschaft die neufundländische Redewendung zum Besten gibt. Sehr oft enthalten derartige Weisheiten ja einen wahren Kern, und in der Tat ist das Wetter in Neufundland extrem wechselhaft. Gut, „fünf Minuten“ mag ein wenig übertrieben sein. Aber dass die Sonne von einem makellos blauen Himmel brennt und eine halbe Stunde später ein veritabler Schneesturm übers Land fegt, so dass man keine 50 Meter weit sieht, gehört hier zur Normalität. The Turnip liegt einen Steinwurf neben dem Highway 430, der sich entlang der Westküste Neufundlands hoch nach St. Anthony windet. Vorbei an vielen verlorenen, vom Wind geformten tuckamore trees, die im harschen Klima so langsam wachsen, dass ein Baum mit zehn Zentimetern Durchmesser durchaus 60 Jahresringe aufweisen kann. Durch verlassene Dörfer, in denen kaum einmal ein Mensch zu sehen ist, vorbei an Booten, die auf dem Strand liegen und immer in Sichtweite des Meeres, das hier nicht mit einer ebenen Eisschicht bedeckt ist, über die man wandern könnte. Die Oberfläche des Wintermeers ist auf ihre Art ebenso wild wie das Sommermeer: Über hunderte Kilometer erstreckt sich der weiße, abweisende Panzer aus geborstenen Schollen, als hätten die Wellen versucht, sich mit aller Kraft gegen das Erfrieren zu wehren. „The winter, that never ends“ wiederholt sich der Wettermann im Radio, und gerade in Küstennähe ist das Wetter besonders launisch. Aber die Küste ist in Neufundland ja überall nahe, jedenfalls in meteorologischer Hinsicht. Eigentlich, sagt Sheri, müsste um die Jahreszeit das Eis schon so weit geschmolzen sein, dass die Robben kommen und ihre Köpfe aus den Wasserlöchern stecken. Doch das wird in diesem Winter noch einige Wochen dauern.
So lange die kalte Jahreszeit die Insel eisern im Griff hält, ist das Meer rund um Neufundland fast überall mit diesem dicken Eispanzer überzogen – und die Fähre vom Festland kann nur die eisfreie Rinne in den Hafen von Port aux Basques nutzen. Rund sieben Stunden dauert die Überfahrt, wenn sie stattfindet. Immer wieder fallen Verbindungen aus, wetterbedingt natürlich. Das Problem dabei: Das eigentliche Zentrum Neufundlands ist die Hauptstadt St. John’s, in der mehr als die Hälfte der Einwohner lebt. Und die liegt sozusagen auf der anderen Seite der Insel. Im Sommer, wenn das Nordmeer eisfrei ist, gibt es auch eine Fähre vom Festland in die Hauptstadt. Aber im langen Winter muss folglich alles, was die Neufundländer benötigen, per Schiff nach Port aux Basques gebracht und von dort auf dem Landweg weitertransportiert beziehungsweise verteilt werden.
Von der Hafenstadt in der Südwestecke der Insel führt der Transcanada Highway – die Straße mit der Nummer 1 – in einem weiten Bogen nach St. John’s. Die Bezeichnung „Lebensader“ hat für diese Hauptverkehrsstrecke Neufundlands eine besondere Berechtigung. Der knapp über 900 Kilometer lange Highway ist von zentraler Bedeutung. Auf ihm wird der Großteil der Transporte abgewickelt, alle anderen Straßen hängen wie immer feiner werdende Verästelungen an der Schlagader, die seit einigen Jahrzehnten die Eisenbahnlinie zwischen den beiden Hafenstädten ersetzt. Die Schienenverbindung wurde 1898 von den britischen Kolonialherren fertiggestellt und war lange Zeit – neben dem seit Jahrhunderten üblichen Weg über das Wasser – die einzige Möglichkeit, Güter und Menschen von der West- auf die Ostseite der Insel zu bringen und umgekehrt. Erst 1967, achtzehn Jahre nach dem sich das vormalige Dominion unter dem Namen „Labrador und Neufundland“ als zehnte Provinz Kanada angeschlossen hatte, wurde der Transcanada Highway komplettiert. Die Eisenbahn stellte zwei Jahre später den Personenverkehr ein und legte die Strecke 1988 ganz still. Möglicherweise wird der Schienenweg in naher Zukunft reaktiviert, dann allerdings nur als Touristenattraktion.
Während beispielsweise auf dem schneeverkrusteten Highway 430 nur wenige Lastwagen unterwegs sind, rollen die Trucks auf dem relativ gut ausgebauten Highway 1 Tag und Nacht in beide Richtungen. Tankwagen, Holztransporter, Kühlzüge – alle nutzen den zentralen Verkehrsweg. Auch Cory Sheaves, der auf sehr spezielle Art an das Fehlen der Bahnverbindung erinnert: Er zieht mit seinem Truck Trailer der kanadischen Eisenbahngesellschaft. Seit 17 Jahren ist der 38-Jährige als Fernfahrer unterwegs, meist auf der Insel, gelegentlich auch auf dem Festland, wo ihn sein Job bis in die nahen USA bringt. Der Konkurrenzkampf zwischen den Fuhrunternehmen sei hart, berichtet Cory. „Doch ich habe Glück, mich trifft das weniger, weil ich seit vielen Jahren fest für die Bahn arbeite.“ Mit eigenem Lkw, momentan ein Freightliner Cascadia. Ausgestattet mit Cummins-Motor und Fuller-Getriebe. „Im nächsten Jahr steht der Kauf eines neuen Trucks an. Kann sein, dass es dann ein anderer Motor wird. Aber ein automatisches Getriebe will ich auf keinen Fall haben, da bestelle ich sicher wieder ein Fuller.“ Der selbstfahrende Unternehmer spricht hier wohl für das Gros der Fahrer – während im Pkw-Bereich in Nordamerika Automatik-Getriebe seit ewigen Zeiten Standard sind, schwören die Lkw-Fahrer auf manuell bedienbare Technik, bevorzugt von Fuller. Glaubt man Cory Sheaves, scheint sich auch in Kanada ein Phänomen auszubreiten, das in Europa für viel Wirbel sorgt – die Anstellung billiger Fahrer. „Bei uns hier auf Neufundland gibt es das Problem glücklicherweise noch nicht, aber im Westen des Landes, in Alberta oder British Columbia, wo die großen Transportfirmen richtig viel Geld machen, werden jetzt zunehmend Inder oder Pakistani als billige Fahrer eingestellt.“ Schließlich will Cory noch wissen, wie es in Europa so sei – ob es dort Demokratie wie in Kanada gebe, ob zwischen den Ländern Grenzen und Zollschranken bestehen. Vermutlich weiß er über Europa so viel oder so wenig wie der durchschnittliche Europäer über Kanada.
Als sich die beiden Fahrer Kevin und Russel auf einem Parkplatz neben dem Highway 1 treffen, ist gerade wieder die berühmte halbe Stunde vorbei: Die Sonne hat sich verzogen, dicke Flocken verdunkeln den Himmel und der Wind sorgt dafür, dass sich die Kälte noch kälter anfühlt. „Ja, so ein Wetter ist normal hier,“ lachen die beiden und sehen zu, dass sie ihre Trailer tauschen und wieder in die gut geheizten Kabinen ihrer Hauber kommen (Frontlenker werden allenfalls all Müllsammler eingesetzt). Kevin muss mit dem Auflieger, den sein Kollege gebracht hat, gute 600 Kilometer weiter, nach Port aux Basques. Rund 6,1 Liter verbrennen die Motoren im Winter pro Kilometer – rund sieben Prozent mehr als im Sommer, sagen sie. Im Gegensatz zu dem Duo hat Naven den Durst seines 625-PS-Triebwerks offenbar noch nie auf den Kilometer umgerechnet: „Dieser Truck verbraucht am Tag 500 Liter Diesel,“ sagt er, auf den Tank deutend, und wirkt dabei, als sei das ein verständliches Maß auch für seine Arbeitsleistung, auf die er stolz sein kann. Naven posiert noch schnell breitbeinig für ein Foto vor dem Frontgrill des Peterbilt. Im Film könnte der Mann mühelos den typischen Trucker geben: trotz Schneetreibens bleibt die Sonnebrille auf, der Winterwind verweht den Vollbart, auf der linken Hand ist eine zerstückelte Tätowierung zu erkennen, irgendwann ist auf der Jeans über dem rechten Knie ein Schmierfleck zurückgeblieben. Naven verlässt mit seinem Timbertruck den Highway 1 bei Badgers, fährt dann 48 km auf einer der Verästelungen, dem Highway 370, auch als Buchans Highway bekannt, um von dem auf eine Winterstraße abzubiegen. „Dort liegen dann nach 35 Kilometern die Stämme, die ich heute laden muss. Die gehen ins Sägewerk nach Bonavista.“ Macht 450 Kilometer vom Ladeplatz bis ans Ziel. Eine weite Strecke für eine Fuhre dünnes Rundholz.
Um die Ecke parkt ein weiterer Holztransporter, der schon beladen ist. Ray Burton schafft seit 38 Jahren als Fahrer und macht ebenso wie sein stahlblauer Peterbilt den Eindruck, ein wenig in die Jahre gekommen zu sein, um es vorsichtig auszudrücken. 550 PS sind inzwischen eine etwas magere Motorisierung, „mit der ich manchmal an den Steigungen nicht der Schnellste bin, aber es geht schon,“ meint Burton. Erstaunlich ist die Ladungssicherung: Das Rundholz liegt quer auf dem Trailer, zwei längs über die Fracht gespannte Ketten sind die einzige Sicherung. Dazu kommen ein paar zerschlissene rote Fahnen, die die Breite signalisieren.
Im Gegensatz zu Ray Burton wirkt Ernest Maher geradezu jugendlich, obwohl der 68-Jährige auch schon seit seinem zwanzigsten Lebensjahr als Lkw-Fahrer arbeitet. Maher lebt ein paar Kilometer weg von der zentralen Achse in Aquaforte. Ein Kaff neben dem Highway 10, der von der Hauptstadt St. John’s entlang an der Südostküste nach Süden führt und dann, als Hwy. 90, wieder hoch auf die Transcanada-Trasse. Maher ist ebenfalls selbstfahrender Unternehmer mit einem dreiachsigen Tanklaster als Arbeitsgerät. „Früher fuhr ich viele Jahre lang GM, das ist mein erster Freightliner, ein wunderbares Auto,“ schwärmt Maher. Untypisch für viele Fahrer hier hat er sich sogar für ein automatisiertes Getriebe entschieden – und ist rundum zufrieden damit. Bis vor einigen Jahren, erzählt der Veteran, sei er für den Mineralölkonzern Unimar gefahren und habe dessen Logo auch auf den Tanks gehabt. Jetzt laufe der Truck unter seinem eigenen Namen. Maher liebt seinen Job und ist offenbar ganz gut mit dem wirtschaftlichen Umbruch der letzten Jahre zurechtgekommen: „Es stimmt schon, früher hatten wir viel Geschäft mit den Fischerbooten. Aber das wird immer weniger. Jetzt fahre ich hauptsächlich Heizöl, das ich en gros einkaufe und dann die Leute beliefere.“
Es schneit gerade wieder einmal satt, als wir uns unterhalten – für Ernest Maher nichts, was ihn aus der Ruhe bringen würde: „Die Straßen sind wirklich gefährlich, da muss man halt langsam machen.“ Vielleicht hilft ja auch, fünf Minuten zu warten.
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